Günther Paffrath
 Bücher aus dem Bergischen Land 

 
  
  
 
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Lebenskreise - zwischen Sülz und Wolga
327 Seiten, ISBN 3-980 298 2-8-0, 19,80€;
 
Kommentar:
Lebenskreise -
Kreise des Lebens zeigen sich hier in den Schicksalen von Menschen, deren örtliche Fixpunkte vornehmlich der Höhenhof, ein Bauernhof irgendwo inmitten des Bergischen Landes sowie eine kleine Siedlung in der Weite der russischen Landschaft sind.

Felix Bartels kehrt mit seinem Kind Matthias in die Heimat seiner Väter zurück. Auf diesem Heimweg fällt er einem Mordanschlag zum Opfer. Sein Sohn Matthias wird von Thomas Hufner gerettet und an Kindesstatt angenommen.
Matthias begegnet später - als junger Mann - Katja, der Tochter eines Mitstreiters von Lenin, die für einige Zeit in dem bergischen Ort lebt, nach der russischen Revolution aber wieder nach Russland zurückkehren muss. Die Personen des Romans erleben die Wirrnisse des Ersten und Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht auch Jörg Bartels, Sohn von Matthias. Als junger Soldat kommt er an der russischen Front zum Einsatz. Bei dem Versuch russische Zivilisten zu retten, gelangt er hinter die feindliche Linie. Seine abenteuerliche Flucht durch Russland und schließlich durch die damalige DDR in Richtung Heimat beginnt.
 
Leseprobe:
... Vogelgezwitscher und heller Sonnenschein wecken ihn am nächsten Morgen. Die Nacht war kühl, es fröstelt ihn. Der Niederschlag des Taus sammelt sich an den nach unten hängenden Blattspitzen und tropft von den sich dicht über ihn ausbreitenden Ästen auf seine Stirn. Jörg setzt sich und blinzelt in die gelbrote Morgensonne, die ihre Strahlen durch das Blättergewirr in sein Versteck dringen lässt. Langsam kehrt die Erinnerung an das Erlebnis der Nacht zurück. Jörg will aufstehen, doch ein stechender Schmerz durchzuckt seinen Arm, so dass er einen Augenblick in der Hocke bleibt und sich dann wieder auf den weichen Moosboden setzt. Sein Blick fällt auf einige Lebensmittel, die aus einem der Beutel hervorlugen. Er öffnet eine mit Zucker gefüllte Dose und steckt den angefeuchteten Finger hinein. Dabei durchfährt ihn erneut dieser eigenartig intensive Schmerz. Er genießt die Süße des Zuckers, stellt die Dose auf den Waldboden und streift den Ärmel seiner Jacke hoch. Der Unterarm ist stärker verletzt, als er es befürchtet hatte. Deutlich sind die Wundmale zu sehen, die der Hund in sein Fleisch geschlagen hat. Die Wundränder sind stark gerötet. Er versucht, die Wunde auszudrücken, doch es erscheint kein Blut mehr. Das Gewebe wird durch das Drücken lediglich schmerzhaft gereizt.
Er isst etwas, holt seinen Kompass hervor und versucht gedanklich die lange Strecke zurückzulegen, die er seit Aufbruch aus seinem Winterquartier gegangen ist. Die Erinnerungen an Einzelheiten sind völlig verwischt, wie er bemerkt. Vielleicht wird ihm dieser oder jener markante Punkt bei einer möglichen Rückwanderung wieder einfallen. Vorerst wird er seine süd-ostwärts gerichtete Wanderung fortsetzen. Er muss versuchen, möglichst rasch aus diesem Gebiet wegzukommen, dies, bevor mögliche Suchgruppen nach ihm, dem dreisten Einbrecher forschen.
Als Jörg am Abend noch einmal die Verletzung seines Armes kontrolliert, ist dieser angeschwollen. Schmerzhaft pocht das Blut in den Adern. Trotzdem wandert er noch die halbe Nacht hindurch weiter, bevor er sich ermattet auf seine Decke legt.
Einige Stunden später, als sich die Sonne am Horizont erst durch einen schmalen, goldgelben Streifen ankündigt, erwacht er von heftigen Schmerzen geplagt. Der Schmerz ist schon nicht mehr zu lokalisieren. Er erstreckt sich mit einem heftig brennendem Ziehen über den ganzen Arm bis hinauf zur Schulter. Als es etwas heller wird, erkennt er unter der Haut einen roten Streifen, der sich von der Verletzung bis hinauf zur Schulter zieht. Siedendheiß steigt nun die Angst in ihm auf. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, wird die Blutvergiftung seinem Leben ein Ende setzen. Allein ohne jede ärztliche Hilfe wird er hier, mitten in der fremden Wildnis, dieser schweren Erkrankung nicht gewachsen sein. Ärztliche Hilfe?
Hatte er damals, vor seinem Überlauf auf die russische Seite, nicht einiges an Medikamenten bei sich getragen? Irgendwo in seinen Taschen müsste sich das Päckchen befinden. Er setzt sich schweratmend hin und kramt in den Bündeln und Taschen. Schmutzig, schwarzgrau sieht das kleine Verbandpäckchen aus, das er schließlich mühsam hervorkramt.. Er öffnet es. Pflaster, eine kleine Verbandschere, eine Mullbinde, Jod, Schmerz- und Sulfonamidtabletten liegen darin. Hastig öffnet er die winzige Jodflasche und beträufelt die Wunden. Warum hab ich nicht eher daran gedacht und mich nicht sofort selbst behandelt! Er nimmt einige Sulfonamid- und Schmerztabletten und spült sie mit etwas Wasser hinunter. „Alles zu spät!", schießt es ihm durch den Kopf, als er sich aufrafft und weitergeht.
Was soll ich machen?
Soll ich mich stellen und um Hilfe bitten? Das würde automatisch die Auslieferung an die russische Miliz bedeuten. Dies wiederum käme - vorausgesetzt, man könnte sein Leben retten - einem Todesurteil gleich, mit dessen Vollstreckung er auf irgendeinem Kasernenhof oder in einem sibirischen Bergwerk rechnen müsste. Welcher Russe würde schon seinen eigenen Kopf riskieren, um einen flüchtigen Deutschen aufzunehmen, zu pflegen und versteckt zu halten?
Der Höhenhof! Wie sehr hat er sich danach gesehnt, ihn und den Vater wiederzusehen. Vater wird vergebens auf ihn warten. Alles ist aus, alles umsonst - bis auf die russischen Zivilisten, bei deren Rettung er helfen durfte. In dieser Hinsicht war sein Leben nicht umsonst gewesen - aber sonst?" Nein! Es darf nicht sein! Ich darf nicht aufgeben, allein um des Vaters willen!", sagt er leise und bestimmt vor sich hin. Verzweifelt mobilisiert er seine letzten Kräfte. Er erhebt sich, schnürt im Trancezustand seine Decken zusammen, wirft sein Bündel über die gesunde Schulter und stapft weiter. Doch schon nach einer Stunde wird aus dem Gehen ein Taumeln. Er ist zu schwach, um sich durch den vor ihm liegenden Wald durchzuschlagen.
Jörg wechselt über eine Böschung hinauf auf einen befestigten Weg. Hier geht es sich leichter. Doch auch jetzt muss er immer wieder schweratmend stehen bleiben. Sein Kopf glüht im Fieber. Er ist seltsam benommen. Die physische Schwäche lässt nun auch seinen psychischen Widerstand erlahmen. „Es hat keinen Zweck, länger zu warten, ich muss zu Menschen, ich muss mich stellen", murmelt er.
An einer Weggabelung hält er an. Auf der rechten Seite des Weges stehen die Reste eines steinernen Kreuzes. Das Oberteil ist zerstört und abgebrochen. Der Stein mit dem darauf erhabenen Gekreuzigten liegt neben dem schwarz vermoderten Stumpf eines Baumes. Aus dem dunklen Stubben ist ein Spross mit frischem Grün ausgetrieben und legt sich gleichsam schützend über den am Boden liegenden Christus. Der Körper des Heilands zeigt Spuren von Hammerschlägen, denen er ausgesetzt gewesen war und teilweise standgehalten hatte. Die Augen des steinernen Kopfes blicken starr durch die grünen Triebe. Auf dem restaurierten Unterteil des Denkmals steht ein Bild mit dem Konterfei des stählernen Josef Wassillji, darunter in kyrillischer Schrift wahrscheinlich irgendwelche Parolen.
Jörg erkennt diesen Ort als einen geeigneten Platz, um seine Beutestücke, die Pistole und andere, ihm wertvoll gewordenen Habseligkeiten zu verstecken. Die Walnuss - er ertastet ihre Konturen in einer Jackeninnentasche - sie wird bei ihm bleiben, mit ihm in den Untergang gehen oder einem neuen Leben entgegen leben. Als er seine Wertgegenstände in eine Höhlung unter den geschundenen, vom Sockel gestoßenen Christus legt, scheint dieser ihn mit seinen steinernen Augen plötzlich anzulächeln. „Hilf mir, Jesus Christus, steh mir bei, steh auch Vater bei, wenn ich nicht mehr zurückkommen sollte." Ohne sich dessen recht bewusst geworden zu sein, ist ihm das Stoßgebet über die Lippen gekommen.
Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel.
Jörg angelt aus seiner Tasche noch einmal Tabletten hervor und schluckt einige mit dem schalen Wasser aus seiner Feldflasche hinunter, dann schwankt er den Weg hinab.
In der Ferne meint er, eine weite, offene Fläche und ein breites, silbern schimmerndes Band zu erkennen. Ist das etwa die Wolga? Täuschen ihn seine fiebernden Augen?
Seltsame bunte Kringel tanzen vor seinen Blicken. Rührt dies von der Krankheit her oder ist es auf die brennende Hitze zurückzuführen? Kündigt sich so der Tod an?
Rechts vor ihm taucht eine kleine Ortschaft auf. Er geht darauf zu, er muss es wagen! Frei, ganz frei geht er über die Straße, offen, wie seit unendlich langer Zeit nicht mehr.
Immer schwächer fühlt er sich. Die Häuser der Ortschaft scheinen vor ihm zurückzuweichen. Kommt denn niemand ihm zu helfen? Er sieht sich um. Rechts vor dem Ort, da, wo sich der Wald wie eine breit gefächerte Hand tiefer in die Talmulde ausstreckt, steht auf einer kleinen Lichtung ein einzelnes Haus. Einer inneren Eingebung folgend wankt Jörg darauf zu. Zwar sieht es besonders verwahrlost aus, doch einige Hühner, die träge in der Sonne dösen lassen erkennen, dass das Haus bewohnt sein muss. Jörg pocht an die Tür. Nichts rührt sich. Er drückt die Klinke nieder, schiebt die über den Boden schrammende Tür auf und steht in einem Küchen-Wohnraum. Eine alte Frau mit schneeweißem Haar sitzt an einem winzigen Fenster und näht an einem alten Kleidungsstück. Die Alte hat sich bei seinem Eintritt nicht gerührt. Jörg räuspert sich. Auch jetzt noch keine Bewegung. Ist sie etwa taub? Jörg fühlt, wie ihn seine Kräfte vollends verlassen.
„Um Gotteswillen, liebes Mütterchen, helft mir, ich bin krank!"
Bei seinen Worten fährt sie schnell herum und starrt ihn erschreckt an.
„Tü wü njemjezki?" - Du ein Deutscher?
Ihre stahlblauen Augen mustern ihn eindringlich. Er hält ihrem Blick stand und weiß nicht, ob er noch bei Sinnen ist, oder ob er sich im Fiebertraum befindet.
„Choroscho!", sagt die Alte, - gut!
Langsam, ihn unverwandt ansehend, erhebt sie sich. Jörg kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er stützt sich auf einen alten Stuhl. Die Alte aber sieht ihn so merkwürdig an - ihre Augen...- Wie seltsam sie ihn anblicken. Er glaubt, in ihnen eine Erschütterung zu erkennen - oder ist es nur der Schrecken über sein Erscheinen?
„Was ist los mit ihr?", fragt er sich. Doch sie hat sich schnell wieder gefangen. Sie winkt und bedeutet Jörg, ihr zu folgen. Sie geht voran in einen Stall, dessen winzige Ausmaße ihn an ein Märchenbild aus irgendeinem Kinderbuch erinnern.
Der Stall ist leer - bis auf eine Ziege, die ihn mit neugierigen Glasaugen anstarrt.
Die Frau bedeutet ihm, hinauf auf den Heuboden zu steigen. Sie stützt und schiebt ihn die Stiege hoch. Frost- und Fieberschauern schütteln ihn. Der Schüttelfrost lässt seine Zähne aufeinander klappern. Die Zunge klebt trocken am Gaumen. Die Russin öffnet die Tür zu ihrem „Gästezimmer". Dieser Verschlag ist so klein, dass man über einen kleinen Schrank klettern muss, um die Bettstelle zu erreichen.

Was in den nächsten Stunden und Tagen folgt, sieht Jörg später in seiner Erinnerung nur noch schemenhaft vor sich. Wenn er zwischen wirren Fieberschauern die Augen öffnet, blickt er in das blasse Gesicht der alten Frau, das sich sorgenvoll über ihn beugt.
Manchmal sitzt sie auf dem Bettrand, hält seine Hand, wischt ihm den Schweiß von der Stirn, drückt ihm eine Tablette zwischen die Lippen und flößt ihm etwas Tee ein.
Obwohl sich Jörg in seinen Fieberträumen oft in der Heimat wähnt, so sieht er doch in den wenigen Augenblicken klaren Erwachens seine ernste Situation realistisch. Falls er die Krankheit überleben würde, müsste er damit rechnen, von russischer Seite gefangengenommen zu werden. Noch aber deutet auf diese Gefahr nichts hin. Was aber, so grübelt er, bewegt die alte Frau ihn, den deutschen Soldaten, hier unter eigener Lebensgefahr zu verstecken und so aufopfernd zu pflegen?
Später, als er die Krise überwunden hat, ist er häufig allein im Haus.
Es dauert manchmal Stunden, bis die Russin wieder zurückkehrt.
Eines Tages aber bleibt sie ganz aus.
Ein Gefühl der Unsicherheit beschleicht ihn, als er die Lebensmittel bemerkt, die ihm seine Retterin hingestellt hat. Vormittag und Nachmittag verrinnen, ohne dass im Haus ein Laut zu hören ist. Sollte sie ins Dorf gegangen sein, um ihn anzuzeigen? Was könnte sie auch daran hindern? Stellte er für sie nicht eine Gefahr dar, wenn sie ihn nicht anzeigen würde. War er als Deutscher nicht ihr Feind? Gleichzeitig schämt er sich seines Argwohns. Er denkt an ihre guten Augen, an ihre dauernde, liebevolle Fürsorge. Oder - war sie etwa eine Wolgadeutsche oder eine Russin, die mit Deutschen sympathisiert? Gewiss, das könnte sein, hier muss der Schlüssel zur Lösung des Rätsels ihrer so menschlichen Handlungsweise liegen!
Es wird Abend, und noch immer ist Jörg allein.
Er steht auf, schiebt das Schränkchen etwas beiseite und richtet sich jetzt vollends auf.
Nur sehr unsicher tragen ihn seine Beine. Er fühlt sich schwach, aber dennoch wieder relativ wohl, die Sepsis ist besiegt, er ist gerettet.
Leise schleicht er nach unten und nimmt jetzt die Bauart und die Einrichtung der Hütte - alles das, was er bei seinem Kommen nur wie durch einen Schleier sah, bewusst und genau zur Kenntnis. Das Haus ist baulich in sehr schlechtem Zustand, doch zeigt die ordentliche Einrichtung, dass die Besitzerin alle Arbeiten, die sie selbst verrichten kann, peinlich sauber ausführt. Eine Reihe wertvoller Einrichtungsgegenstände stehen in auffallendem Kontrast zu dem verfallen wirkenden Gebäude.
Jörgs besondere Aufmerksamkeit erweckt ein geräumiger Schrank, der mit einem roten Kreuz auf weißem Grund als eine überdimensionale Hausapotheke gekennzeichnet ist. Er versucht vergeblich, den Schrank zu öffnen. Durch eine Glasscheibe erkennt er eine Anzahl chirurgischer Instrumente, Verbandsmaterial und Medikamente, so auch ein Röhrchen mit Sulfonamidtabletten, von denen er in seinem Erste-Hilfe-Päckchen auch einige besessen hatte. Vielleicht verdankt er diesem Medikament seine Rettung. Welche kaum fassbare Fügung hatte ihn gerade hier in dieses Haus geführt? Wie kommen diese medizinischen Dinge in die dörfliche Abgeschiedenheit? Eins ist sicher, er muss das Bild der seiner Ansicht nach naiven, schlichten alten Russin revidieren. Offensichtlich ist sie eine Intellektuelle, vielleicht eine Wolgadeutsche. Sie könnte auch eine Kommunistin sein, die ihn zwar gesund gepflegt hat, ihn aber vielleicht zum jetzigen Augenblick irgendwo in einer nahen Stadt bei einer Behörde anzeigt.
Wieder regt sich in ihm das instinktiv lauernde Misstrauen gegenüber jedermann, die immer wachende Vorsicht, die sich in ihm seit seiner Einberufung, besonders aber seit seiner Flucht entwickelt hat. Soll er seinen Unterschlupf verlassen?
Er spürt, dass irgendeine Gefahr oder zumindest eine Änderung bevorsteht.
Jörg möchte erneut fliehen; doch ein nicht erklärbares Gefühl rät ihm abzuwarten und zu bleiben. Er ist sich über seine zwiespältigen Empfindungen nicht im klaren. Es ist eine apathische, fatalistische Gleichmütigkeit gegenüber seinem weiteren Schicksal. Er möchte zwar drohenden Gefahren ausweichen, kann sich aber wiederum nicht entschließen, sich aus dem gegenwärtigen sicher wirkenden Gebiet zu entfernen. Nach vielen Monaten der Einsamkeit hat er hier nicht nur einen ersten Kontakt mit Menschen bekommen. Er durfte die lebensrettende Umsorgung eines ihm fremden Menschen erfahren.
Jörg tritt aus dem Haus und geht die wenigen Schritte zum Ziehbrunnen, schöpft Wasser, trinkt etwas und füllt seine Feldflasche. Anschließend begibt er sich in den Stall zurück, wirft der Ziege etwas frisches Gras vor und klettert über die Stiege hinauf in seinen winzigen Verschlag.
Noch immer von einer inneren Unruhe erfüllt, legt er sich angezogen auf sein Lager.
Durch das kleine Fensterchen betrachtet er den langsam heraufsteigenden Mond. Stunden vergehen, Jörgs empfindet keine Zeit. In einem Zustand zwischen Wachen und leichtem Halbschlaf träumt er dahin.
Plötzlich wird er hellwach. Was war das, hat er nicht eben Schritte unten im Stall gehört?
Jörg hält den Atem an und lauscht. Stille!
Da, die zu ihm hinauf führende Stiege knarrt. Die Tür zu seinem Verschlag bewegt sich leise. Das ist nicht die gute Alte! Sie meldete sich stets anders und kam mit Licht herauf. Wieder die unheimliche Stille.
Obgleich Jörg nichts sieht und nichts mehr hört, spürt er, dass ein Mensch dicht bei ihm in der Kammer ist. Ob es etwa doch die Russin ist, die noch einmal nach ihm sehen möchte, ohne ihn aufzuwecken? Die allermöglichsten oder unmöglichsten Gedankenfetzen stieben ihm wie bunte Funken durch den Kopf. Ein Frösteln der Angst läuft ihm den Rücken hinab. Mit verhaltenem Atem erwartet er, dass jeden Augenblick etwas Schreckliches passiert.
„Deutscher, bist du noch hier?"
Dicht neben seinem Lager erkennt er jetzt den Schemen eines Mannes, der ihn so angesprochen hat. Jörg ist erstarrt bei diesen Worten.
„O Gott, ein Deutscher!", entfährt es ihm.
„Mach Licht, Landsmann, nein warte, ich zünde es selbst an", sagt Jörg halblaut und entzündet die kleine Kerze neben seinem Bett.
Im Schein des flackernden Kerzenlichts sieht er in das bärtige Gesicht eines etwa sechzig Jahre alten Mannes, der ihn mit kühl abschätzendem Blick mustert.
Impulsiv greift Jörg nach dessen Hand und fragt: „Wie kommst du hierher, Kamerad?"
Mit einer brüsken Bewegung entzieht der Fremde die Hand.
„Ich bin nicht dein Kamerad, ich bin auch nicht dein Landsmann."
„Aber du sprichst doch Deutsch! Wenn du wüsstest, wie lange ich kein deutsches Wort mehr gehört habe!"
„Ich spreche deine Sprache, ich bin auch deutscher Abstammung. Meine Vorfahren sind unter Iwan dem Schrecklichen nach Moskau gezogen, später unter Zar Peter, dem Ersten und Katharina, der Zweiten, hier an das Gebiet an der Wolga gekommen. Ich werde hier und da als Dolmetscher eingesetzt, ich bin aber Russe. Beschimpf mich nicht mit der Bezeichnung
Deutscher !"
„Wieso beschimpfen? Sie sind offenbar sehr verbittert! Der Krieg ist nicht meine Schuld!"
„Ich bin nicht gekommen, um über Schuld oder Unschuld zu sprechen, auch nicht, um meine Abstammung darzulegen. Ich soll dich von hier fortbringen."
„Wer, wer hat dich - wer hat Sie geschickt?"
„Mutter Tanja hat mich gebeten, dich in Sicherheit zu bringen."
„Dann ist „Mutter Tanja“ die gute Frau, die mich gerettet hat?"
„Ja, es ist Tanja Levis, der gute Geist unseres Dorfes, unser gutes Mütterchen Tanja."
„Wo ist sie jetzt? Weshalb kommt sie nicht selbst her?"
„Sie ist zu dem erkrankten Direktor unserer Sowchose gerufen worden. Dort wird sie eine Weile bleiben müssen. Nun wird hier öfters am Tage jemand ins Haus geschickt, um nach dem rechten zu sehen und um die Tiere zu versorgen. Würde man dich hier entdecken, wärst du sicherlich verloren. Du musst deshalb verschwinden!"
„Ist sie eine Ärztin?"
„Nein.“
„Wieso konnte sie mich denn retten?“
„Ihre Familie hatte in einem Vorort von Woronesch eine Apotheke. Bei der Besetzung durch die Deutschen wurden ihre Verwandten, die wie ich jüdischer Abstammung waren, ermordet. Sie ist wie durch ein Wunder gerettet und in diese Gegend verschlagen worden. Mütterchen Tanja ist eine tüchtige, eine wunderbare Frau."
„Weshalb", fragt Jörg zögernd, „hat sie ausgerechnet mich gesund gepflegt?"
„Was weiß ich? Vielleicht ist sie in ihrer Güte doch nicht ganz normal."
„Was ist denn - was wäre denn ´normal` gewesen?"
„Normal ist der Hass und das Bedürfnis nach Vergeltung. Aber in dieser Zeit weiß ich nicht, was zu `normal` gehört und was nicht. Vielleicht ist das Unnormale normal - oder umgekehrt. Manchmal weiß ich nicht, was oben, was unten, was göttlich und was teuflisch ist. Doch nun beeil dich. Ich muss meinen Auftrag ausführen. Pack deine Sachen zusammen, auch das Essenspäckchen in der Küche! Ich bringe dich auf den Weg."