Günther Paffrath
 Bücher aus dem Bergischen Land 

 
  
  
 
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Ein Schwein im Beiwagen
232 Seiten, ISBN 3-980 298 2-4-8 1, zweite Auflage 14,30€;
 
Kommentar:
Günther Paffrath schreibt Kindheitserinnerungen nieder: Ereignisse, Erlebnisse, Kriegskorrespondenz. Der Überlebenswille erwachsener Menschen wird beschrieben, der vom „Ährenlesen“ bis zum „Schwarzschlachten („Ein Schwein im Beiwagen“) oder zu kleineren Gaunereien reicht. Schicksale von Menschen werden dargestellt, die auf ihrer Flucht im Bergischen Land weine Bleibe fanden. Streiche werden ebenso geschildert wie Arbeiten in der Landwirtschaft in jener Zeit.
 
Leseprobe:
Von Jungenträumen und Weihnachtsbäumen
In den Jahren, in denen wir Weihnachtsbäume zu verkaufen hatten, nahmen wir bereits wenige Wochen nach der Kartoffelvermarktung Kontakte mit Weihnachts-baumaufkäufern auf.
Die folgende Geschichte, in der Weihnachtsbäume eine tragende Rolle spielen, beginnt somit auch im Herbst. In jenem Jahr feierten wir am sechsten Oktober das Erntedankfest, und mit diesem Tag muss ich anfangen, wenn ich die Geschichte voll-ständig erzählen will.

Bis zu jenem Erntedankfest war ich kein eifriger Kirchgänger, wobei ich unter „eifrig" ohnehin schon größere zeitliche Kirchenbesuchsintervalle verstehe. Es war jedoch für mich - als Jungbauer - ein inneres Bedürfnis, besonders am Erntedankfest dem Schöpfer für Milch und Eier, Korn und Kartoffeln zu danken.

An diesem sechsten Oktober wurde in unserer Kirche der neue Pfarrer eingeführt. Da ich in der zweiten Reihe unmittelbar hinter der neuen Pfarrerfamilie saß, konnte ich aus nächster Nähe das feierliche Geschehen beobachten. Viele Kirchen-besucher, Presbyter und die Amtsbrüder des neuen Pastors waren bei der Amtseinführung sichtlich bewegt und schauten mit ernsten Gesichtern drein. Ganz anders jedoch der neue Pfarrer. Er erschien mir quirlig und fröhlich, sein rotblondes Kraushaar wippte bei jeder Bewegung.
Neben ihm saß in betont aufrechter Haltung seine dunkelhaarige Frau und neben dieser die Tochter mit dem in unserer Region seltenen Namen Rahel, und genau hinter dieser saß ich. Als ein wenig später der Organist die Orgel in ihrer vollsten Kraft ertönen ließ, wendete sich dieser prächtige Haarkopf um und blickte zur Orgel. Für einen Augenblick vergaß ich fast zu atmen, dieses feinprofilierte Gesicht, einer marmornen Göttin gleichend, aber hier in natürlicher Anmut gewiss noch viel schöner!
Die dunkelblauen Augen, langbewimpert, unter schwarzen Brauen blickten an mir vorbei hinauf zur Orgel. Wenn sie mich angesehen hätten, ich glaube, ich wäre überrot geworden. Nun, ihr Blick streifte mich nicht einmal. Dennoch hatte mich ihre Schönheit innerhalb weniger Sekunden in ihren Bann gezogen.
Rahel!
Oft sprach ich den Namen in der Folgezeit leise vor mich hin.
Wie gut konnte ich Jakob verstehen, der für seine Rahel sieben Jahre umsonst arbeitete. Es war mir klar, dass ich mindestens sieben mal sieben Jahre lang für diese Rahel arbeiten würde.
Vorerst begann ich damit, meine Lebensgewohnheit zu ändern. Anstatt dreimal im Jahr ging ich fortan jeden Sonntag zur Kirche, hoffend, hinter diesem schwarzen Zopf, hinter dieser märchenhaften Lichtgestalt sitzen zu dürfen.
Meinen Eltern entging diese wundersame Wandlung nicht.
Sie fragten sich wohl, um was für ein Schlüsselerlebnis es sich handeln möge, das mich der Kirche so nahegebracht habe.

Meine Verhaltensänderung beschränkte sich nicht allein auf den eifrigen Kirchenbesuch, nein, auch meine Umgangsformen waren anders geworden. Auf meine Gardarobe legte ich fortan ebenso größeren Wert, wie auch auf meine Körperhaltung, die gerader oder auf meinen Gang, der gravitätischer wurde. Dennoch dauerte es bis in den November hinein, ehe ich es wagte, das Mädchen nach der Kirche auf dem Kirchvorplatz anzusprechen. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass die Witterung sehr unfreundlich sei, was sie auch bestätigte und mir anbot, mich unter ihren Schirm, einen kleinen, lilageblümten zu stellen. Dieser bot ihrem schönen Haupte soeben Regenschutz, mich aber nutzte er mehr als Regenrinne. Es war für mich, so empfand ich es jedenfalls - der herrlichste Augenblick meines jungen Lebens. Ich genoss förmlich jeden Tropfen, der von ihrem Schirm in meinen Nacken floss, und da gab es viel zu genießen. In eine freundlich-lockere Unterhaltung vertieft, schritten wir die wenigen Meter bis zum Pfarrhaus, wo ich mich von ihr verabschiedete. In ihren dunkelblauen Augen sah ich ein kurzes Aufleuchten, als ich die Hoffnung äußerte, es möge doch am nächsten Sonntag aus dem Sonnein Regentag werden, der es mir erlaube, mich wieder unter ihren Schirm stellen zu dürfen.
Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung; denn der nächste Sonntag war ein strahlender Novembertag. Nach dem Gottesdienst trat ich auf dem Kirchplatz zu ihr und wies darauf hin, dass es ein besonders schöner Tag sei, was sie ebenso fand. Wir kamen diesmal etwas länger miteinander ins Gespräch, und ich empfand voller Wonne eine volle, harmonische Übereinstimmung zwischen ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrem Wesen. Jetzt nahm mein Bestreben, ihr möglichst nahe zu sein, neue Dimensionen an. Nachdem ich bereits Mitte November dem Kirchenchor beigetreten war, schloss ich mich Anfang Dezember einem Bibelkreis und einer kirchlichen Jugendgruppe an.

Alle diese Bemühungen ziehen darauf hin, nicht nur vor Rahel, sondern auch vor ihren Eltern bestehen zu können, die möglicherweise Vorbehalte gegen einen freundschaftlichen Umgang ihrer Tochter mit einem Jungbauern haben könnten.
Insgesamt war ich in einer sehr glücklichen Stimmung, die sich auch von der immer winterlicher werdenden Witterung nicht beeindrucken ließ.
Der Winter nahte indessen mit Schneeregen und Reif.

Ende November begannen für uns Verhandlungen mit Weihnachtsbaumaufkäufern. Wir hatten vor einigen Jahren eine große Waldwiese mit jungen Fichten bepflanzt, die in diesem Jahr Weihnachtsbaumgröße hatten und verkauft werden konnten.
Anfang Dezember begann für uns also die „Waldernte". Der Ertrag für manche harte Arbeitsstunde musste nun in bare Münze zu unserem Wohl umgewandelt werden.

Mitte Dezember war die Aktion abgeschlossen, und nur vereinzelt erschienen noch private Käufer, um ihren Weihnachtsbaum direkt bei uns, dem Erzeuger, zu kaufen.
Wir waren somit in jenen Tagen häufig in der Fichtenparzelle.
Dabei fiel uns auf, dass immer wieder Weihnachtsbäume von Weihnachtsbaumdieben geschlagen worden waren. Häufig fehlten sie gerade dort, wo ohnehin eine Bestandslücke ein weiteres Schlagen nicht mehr zuließ. Offenbar hatte man sich in diesem Jahr wieder daran erinnert, dass es sich unter einem gestohlenen Weihnachtsbaum am besten singen - und es sich in unserem Wald am leichtesten klauen ließe.
Da wir nur ungern der Willkür in unserem Wald freie Bahn lassen wollten, beobachteten wir öfters unseren Bestand.
Eines Abends war ich wieder unterwegs. Es begann leise aber immer intensiver zu schneien. ,,Beim Schnee wird es leichter werden, eine Spur zu verfolgen oder einen Weihnachtsbaumdieb zu stellen", dachte ich bei mir. Ich malte mir aus, wie ich einen solchen mit harschen Worten anhalten und zur Rede stellen würde.
Da plötzlich war es mir, als sehe ich etwa hundertfünfzig Schritte unterhalb von meinem Standort aus, eine Gestalt in dunkelgrünem, inzwischen schneebesprühten Loden aus unserer Parzelle treten. Eine spitze Kapuze, ebenfalls schon schneeüberzuckert, ließ den Menschen wie einen Riesenwichtel erscheinen. Mühsam schleppte er zwei Weihnachtsbäume mit sich den Berg hinan. Ich stieß einen Ruf aus und begann, den Hang hinabzurutschen. Er schien mich gesehen zu haben und schlug einen schmaleren Nebenweg ein. Als ich parierte, änderte auch er erneut die Richtung, dennoch kam ich ihm immer näher. Schließlich war ich nur noch wenige Meter hinter ihm. Er hatte an Geschwindigkeit zugelegt und musste sich gehörig anstrengen; denn die Weihnachtsbäume ließen sich gewiß nicht leicht ziehen. Obgleich er wissen mußte, daß ich direkt hinter ihm war, hielt er nicht an. Da ich wegen der Enge des Weges und der Breite der beiden Bäume nicht an ihm vorbeikonnte, rief ich:
„Hallo!"
„He, hallo!"
Er blieb stehen, drehte sich um, und ich erstarrte.
Unter der schneebedeckten Zipfelmütze schauten rotblonde Locken und darunter das Gesicht unseres neuen Pfarrers hervor.
Wir erkannten uns, und die Verlegenheit wuchs bei mir.
Nun hatte ich den Vater meiner Angebeteten beim Weihnachtsbaumdiebstahl gestellt. Dieser mochte die ,,Baumentnahme" wahrscheinlich nur als ein Kavaliersdelikt betrachtet haben, vielleicht hatte er sich aber auch gar nichts dabei gedacht. Für mich würde es das Ende meiner großen Liebe bedeuten, fände ich jetzt nicht die richtigen Worte. So leitete ich das Gespräch mit der überflüssigen Frage ein:
,,Haben Sie Weihnachtsbäume geholt?"
,,Das habe ich, junger Freund. Aber - wo bin ich bloß hier? Ich habe wohl den rechten Weg verfehlt!"
Im Innern bestätigte ich seine letztere, doppeldeutige Feststellung, stieß aber nur heiser vor Erregung hervor:
,,Woher haben Sie die Bäume?'
,,Die habe ich vom Schöpfer erstanden, einen für mich, einen für das Gemeindehaus. Aber weshalb fragst du, mein Sohn?'
Seine ruhige, freundliche Art sowie die Formulierung ,,mein Sohn" verwirrten mich, darum fragte ich erneut:

„Bei wem kann man solche schönen Bäume erwerben?"
,,Bei Gott, in Gottes freier Natur", wiederholte er, und wieder war ich durch seine Unbefangenheit irritiert.
,,Aber weshalb fragst du so eindringlich?" fuhr er fort, ,,und warum bist du mir so auffällig gefolgt - ich hab dich schon eine Weile hinter mir gespürt. Gelt, du bist doch der fleißige Kirchgänger, der mir schon immer aufgefallen ist, und von dem meine Tochter Rahel manchmal spricht."
Bevor ich, nach einer Antwort suchend, etwas sagen konnte, beantwortete er seine Frage selbst. „Lass mich raten, junger Mann. Du willst sicherlich auch einen Baum haben, und nun siehst du, dass ich gleich zwei besitze und denkst, ich könne dir getrost einen abgeben, so wie das der Martin mit seinem Mantelteil getan, und so wie es unser Heiland gepredigt hat.
Es sei drum so, wie du es dir wünschest. Du kriegst den rechten hier. Es ist der größte Baum, es ist der, den ich für's Gemeindehaus auswählte." Er sah mich einen Augenblick schweigend und nachdenklich an und meinte dann: „Sicher bist du damit einverstanden, wenn ich dich bitte, mir für diesen schönen Baum, den ich eigenhändig fällte und bis hierher schleppte, zehn Mark zu zahlen. Der Küster kann dann einen Ersatzbaum erwerben."
Jetzt wollte ich sagen, der Baum stamme aus unserem Wald.
Er könne ja nicht von mir verlangen, den eigenen Baum zu kaufen und ihm den zweiten kostenfrei zu überlassen, und dass ich es nicht schöne fände, wenn er einfach in einen fremden Wald gehe und sich das hole, was er brauche. Doch ich war zu verstört und verwirrt und stieß nur verschüchtert hervor, ich wisse nicht, ob ich genug Geld bei mir habe. Zufällig fand ich jedoch meine Geldbörse in einer meiner zahlreichen Jackentaschen.
So bezahlte ich meinen eigenen Baum und ließ den Weihnachtsbaumdieb unbehelligt von dannen ziehen.
Insgeheim nahm ich mir vor, zur Strafe den Gottesdienst drei Wochen lang –
m i n d e s t e n s - nicht mehr zu besuchen.
Dies geschah an einem Freitag.
Am Sonntag aber saß ich bereits wieder brav hinter Rahels langem, schwarzen Zopf.